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Außenpolitische Begründung der 2. Flottenvorlage


Aus der Rede des Staatssekretärs von Bülow im Reichstag vom 11.12. 1899


Meine Herren, die Notwendigkeit der von den verbündeten Regierungen1 in Aussicht genommenen Ergänzung und Erweiterung des Flottengesetzes von 1898 geht hervor aus der gegenwärtigen Weltlage und aus den Bedürfnissen unserer überseeischen Politik. . . ... Es ist Zeit, es ist hohe Zeit, daß wir gegenüber der seit zwei Jahren wesentlich ver­änderten Weltlage, im Hinblick auf die inzwischen erheblich modifizierten Zukunfts­aussichten uns klar werden über die Haltung, die wir einzunehmen haben gegenüber den Vorgängen, die sich um uns herum abspielen und vorbereiten, und welche die Keime in sich tragen für die künftige Gestaltung der Machtverhältnisse für vielleicht unabsehbare Zeit. Untätig beseite stehen, wie wir das früher oft getan haben, entweder aus angebo­rener Bescheidenheit (Heiterkeit), oder weil wir ganz absorbiert2 waren durch unsere inneren Zwistigkeiten, oder aus Doktrinarismus3 — träumend beiseite stehen, während andere Leute sich in den Kuchen teilen, das können wir nicht und wollen wir nicht. (Bei­fall.) Wir können das nicht aus dem einfachen Grunde, weil wir jetzt Interessen haben in allen Weltteilen . . . Die rapide Zunahme unserer Bevölkerung, der beispiellose Auf­schwung unserer Industrie, die Tüchtigkeit unserer Kaufleute, kurz die gewaltige Vitali­tät des deutschen Volkes haben uns in die Weltwirtschaft verflochten und in die Welt­politik hineingezogen. Wenn die Engländer von einer Greater Britain reden, wenn die Franzosen sprechen von einer Nouvelle France, wenn die Russen sich Asien erschließen, haben auch wir Anspruch auf ein größeres Deutschland (Bravo! rechts, Heiterkeit links), nicht im Sinne der Eroberung, wohl aber im Sinne der friedlichen Ausdehnung unseres Handels und seiner Stützpunkte. Ihre Heiterkeit, meine Herren von der Linken, macht mich nicht einen Augenblick irre. Wir können nicht dulden und wollen nicht dulden, daß man zur Tagesordnung übergeht über das deutsche Volk. (Lebhafter Beifall rechts. Zurufe links. — Glocke des Präsidenten.) .. .

. . . Der Kreis und der Umfang unserer überseeischen Interessen — da liegt der Kern­punkt der Frage — hat sich sehr, sehr viel rascher und sehr, sehr viel intensiver ent­wickelt als die materiellen Machtmittel, um diese Interessen so zu schützen und zu för­dern, wie es notwendig ist...

Meine Herren, warum verstärken denn alle anderen Staaten ihre Flotte? Doch sicherlich nicht bloß aus Vergnügen am Geldausgeben. (Heiterkeit links.) Italien ist trotz finan­zieller Schwierigkeiten immer und immer wieder zu Opfern für die Flotte bereit. In Frankreich kann die Regierung der Volksvertretung kaum genug tun in Ausgaben für Flottenzwecke. Rußland hat das Tempo seiner Flottenverstärkung verdoppelt, Amerika und Japan machen in dieser Beziehung gewaltige Anstrengungen, und England, welches die mächtigste Flotte der Welt besitzt, ist unausgesetzt bemüht, dieselbe zu vergrößern. Ohne eine wesentliche Erhöhung des Sollbestandes unserer Flotte können wir neben Frankreich und England, neben Rußland und Amerika unsere Stellung in der Welt nicht behaupten, und wir haben eine Stellung in der Welt zu behaupten. So wenig wir ohne eine angemessene Landmacht unsere europäische Position wahren können, so wenig können wir ohne eine erhebliche und beschleunigte Verstärkung unserer Seemacht unsere umfangreichen und immer umfangreicher werdenden überseeischen Interessen und unsere Weltstellung behaupten ... Vom politischen Standpunkt aus kann im Hinblick auf die gegenwärtige Weltlage und mit Rücksicht auf unsere Lage in der Welt über die Not­wendigkeit der in Rede stehenden Verstärkung nicht der mindeste Zweifel obwalten. Ich erfülle lediglich eine Pflicht meines Amtes, wenn ich dies in aller Ruhe und ohne jede polemische Schärfe, aber mit voller Überzeugung ausspreche . . . Wenn wir uns nicht eine Flotte schaffen, die ausreicht, unsern Handel, unsere Landsleute in der Fremde, unsere Missionen (Aha! links) und die Sicherheit unserer Küsten zu schützen, so gefähr­den wir die vitalsten Interessen des Landes. Um aber diesen unseren Entschluß, diesen unseren festen, unwiderruflichen Entschluß, uns eine solche für Verteidigungszwecke aus­reichende Flotte zu verschaffen, nach außen, vor der Welt und dem Auslande zu doku­mentieren, ist nach Ansicht der verbündeten Regierungen die gesetzliche Festlegung des Sollbestandes der Flotte unerläßlich.

Meine Herren, die letzten Jahrzehnte haben viel Glück und Macht und Wohlstand über Deutschland gebracht. Glück und steigender Wohl­stand des einen pflegen bei den anderen nicht immer reine Befriedigung hervorzurufen, das kann auch Neid erwecken. Der Neid spielt im Leben des einzelnen und im Leben der Völker eine große Rolle. Es ist viel Neid gegen uns in der Welt vorhanden, politi­scher und wirtschaftlicher Neid. Es gibt Individuen und es gibt Interessentengruppen und es gibt Strömungen und es gibt vielleicht auch Völker, die finden, daß der Deutsche bequemer war und daß der Deutsche für seine Nachbarn angenehmer war in jenen früheren Tagen, wo trotz unserer Bildung und trotz unserer Kultur die Fremden in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht auf uns herabsahen wie hochnäsige Kavaliere auf den bescheide­nen Hauslehrer. (Sehr richtig! — Heiterkeit.) Diese Zeiten politischer Ohnmacht und poli­tischer Demut sollen nicht wiederkehren. (Lebhaftes Bravo!) Wir wollen nicht wieder, um mit Friedrich List zu sprechen, die Knechte der Menschheit werden. Wir werden uns aber nur dann auf der Höhe erhalten, wenn wir einsehen, daß es für uns ohne Macht, ohne ein starkes Heer und eine starke Flotte keine Wohlfahrt gibt. (Sehr richtig! rechts. Wider­spruch links.) Das Mittel, meine Herren, in dieser Welt den Kampf ums Dasein durchzufechten ohne starke Rüstung zu Land und zu Wasser, ist für ein Volk von bald sechzig Millionen, das die Mitte von Europa bewohnt und gleichzeitig seine wirtschaftlichen Fühlhörner ausstreckt nach allen Seiten, noch nicht gefunden worden. (Sehr wahr! rechts.) In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein …

...


1 gemeint sind die Regierungen der deutschen Bundesländer

2 absorbieren = verschlingen, aufsaugen

3 (abwertend) wirklichkeitsfremdes, starres Festhalten an bestimmten Theorien




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