Eva G. Reichmann*: Nationalsozialistische Ideologie Von der geistesgeschichtlichen Abhängigkeit eines Ideensystems von einem anderen kann hier schon deshalb nicht die Rede sein, weil der Nationalsozialismus gar kein in sich geschlossenes Ideensystem darstellt. Trotz der Überbetonung der Führeridee unterscheidet sich der Nationalsozialismus dadurch von anderen politischen Ideologien, dass in ihm von einer selbstständigen geistigen Leistung des Führers nur in einem ganz begrenzten Sinne gesprochen werden kann. In Wirklichkeit bestand diese geistige Leistung nicht in der Schöpfung und Popularisierung einer neuen, in sich geschlossenen Idee, sondern im Aussprechen und Verständlichmachen spontaner Massenwünsche. Der Nationalsozialismus war mehr als jede andere soziale Bewegung der neueren Zeit eine spontane, nicht eine ideologische Bewegung. Dieses grundlegende Charakteristikum der nationalsozialistischen Bewegung schließt nicht aus, dass Hitler und seine Führerclique zeitweise recht klare Vorstellungen von ihren politischen Zielen hatten; nur bestand zwischen diesen Vorstellungen und dem, was dem Volke als Nationalsozialismus vorgesetzt wurde, wenn überhaupt, so im günstigsten Falle ein sehr loser Zusammenhang. Hitler erstrebte entschieden persönliche Macht; er plante als Gegenleistung für die von der Schwerindustrie empfangenen Gelder die Gewerkschaften zu beseitigen; er wollte einen Revanchekrieg. Aber verständlicherweise sprach er alle diese persönlichen Absichten in seiner Propaganda nicht oder nur versteckt aus. Was er aussprach, war jeweils genau das, was das Volk hören wollte. Es war eine lose nebeneinander gereihte, unzusammenhängende Fülle ideologischer Elemente, von denen jedem einzelnen eine ganz besondere Funktion der Wunscherfüllung zukam. So ist es das Gebiet der Wunschbildung und der Wunscherfüllung, auf dem der Einfluss der geistigen Tradition aufgesucht werden muss. In großer Verdünnung und Entstellung wirkte diese Tradition noch bis in die breiten Volksmassen hinein. Die Menschen, aus denen sich die Massen bildeten, waren alle durch deutsche Volksschulen gegangen und hatten in dieser oder jener Form die deutsche Bildungsatmosphäre in sich aufgenommen. [...] Sie hatten also von dem ihnen dargereichten Gedankengut, das seinerseits schon nur eine verdünnte Auswahl der ursprünglichen Ideen darstellte, lediglich die gröberen, leicht fassbaren und instinktnahen Bestandteile in sich aufgenommen. Dieser Vorgang ist grundsätzlich in allen Ländern der gleiche. Was aber die Bildung der deutschen Massen von der Bildung ihrer dem westlichen Gedankengut tiefer verbundenen Nachbarn unterschied, waren die Bildungsbestandteile selbst, die von ihren Lehrern mitgeteilt wurden. (Eva G. Reichmann: Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe. Frankfurt/M 1956, S. 220f.) *) Eva G. Reichmann * 1897 in Lublinitz (Schlesien); + 1998 Historikerin und Dozentin; von 1924 bis 1939 arbeitete sie als Funktionärin des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« und prägte maßgeblich dessen Geschichte. Die Nationalsozialisten vertrieben Eva und ihren Mann, den Rechtsanwalt Hans Reichmann, aus ihrem engagierten Leben in Deutschland. Nachdem Hans Reichmann für einige Zeit im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert war, emigrierten sie 1939 nach London. Die Anfangszeit in England war nicht einfach, aber Eva Reichmann fand unter anderen Arbeit für den Abhördienst des BBC. Nebenbei promovierte sie 1945 zum zweiten Mal, und zwar an der Londoner School of Economics mit der Arbeit »Hostages of Civilization«. 1956 veröffentlichte sie ihr wissenschaftliches Werk »Die Flucht in den Haß«, eine eindrucksvolle historische Analyse des Untergangs der jüdischen Gemeinden Deutschlands. Eva G. Reichmann wurde zur Verfechterin einer Verständigung auf neuer Basis zwischen den exilierten deutschen Juden und der neu entstandenen demokratischen Bundesrepublik. 1982 wurde ihr dafür der Moses-Mendelssohn-Preis, 1983 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen, später auch die Buber-Rosenzweig-Medaille.
Aufgabenstellung:
Analysieren Sie den Text und setzen Sie sich kritisch mit den Aussagen der Verfasserin auseinander!
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